Archive for Oktober 2010

Wartanzen

Oktober 25, 2010

Egal, wann ich aufstehe. Ich gehe immer so spät aus dem Haus, dass ich mehr fliege als radle, um noch die S-Bahn zu erreichen. Dass ich aber doch radle merke ich, wenn ich im Affenzahn von den Pflastersteinen durchgerüttelt werde. Dieses Gefühl, wenn das Hirn im Kopf gegen den Schädelknochen wabbelt – unangenehm finde ich das. Gehirnrüttelt und affenzahnwindgepustet lande ich mit einem Satz von der Rolltreppe auf dem Wartesteig, um zu warten. Lange. Das Wort „Stellwerkstörung“, das aus den Lautsprechern tönt, bereitet mich darauf vor, während mein Puls noch sichtbar durch die Halsschlagader pocht. Es ist ein Codewort aus der Bahnsprache, das für unerklärliche, unbegrenzte Verzögerungen steht.

Langes Warten erledige ich gewohnheitsgemäß am Ende des Bahnsteigs, da wo keine Mitwartenden im Weg sind. Während ich Musik höre kann ich dann ungestört die Fugen zwischen den Betonplatten betrachten, das Moos darin und den Spuckefladen, den jemand daneben verloren hat. Und an Hüpfspiele denken. Ich habe keine Kreide dabei, der Kugelschreiber funktioniert mal wieder nicht. Also fange ich an, mit nach innen verdrehten Beinen die querliegenden Fugen abzulaufen.

Auch wenn keiner den Grund kennt – dass eine verspätete Bahn früher kommt, wenn sich alle in die Richtung drehen, aus der sie kommen wird, gehört zum Insiderwissen von Bahnreisenden. Niemand blickt in die Richtung, in die sie ihn bringen wird. Damit schauen heute also alle auch in meine Richtung. Zunächst noch an mir vorbei, die hypnotischen Zugblicke beschwörend auf die Gleise gerichtet. Dann werden die Pupillen rastlos hin- und hergerissen, irritiert, bis sie erstarren, mich im Fokus.

Dass meine ersten zaghaften Tanzschritte reges Interesse erwecken, schmeichelt mir natürlich ungemein. Als Anfänger noch wenig kunstvoll, schreite ich im Rhythmus der Musik vor und zurück, die verquirlten Beine zielsicher auf die Fugen setzend. Ich beziehe die Umgebung mit ein, verschmelze mit ihr, bin eins mit den Betonplatten. Ermutigt durch die faszinierten Zuschauer werde ich experimentierfreudig und belebe meine Schritte durch ein leichtes Wippen. Unten rum jetzt leichtfüssig fängt mein Oberkörper an, sich im Takt zu wiegen. Völlig versunken bemerke ich meine Umgebung nicht mehr, bis ich aus den Augenwinkeln Bewegung wahrnehme. Wie in Trance schaukeln die Wartenden mit, selig die Stellwerkstörung vergessend. Entgeistert weiterwiegend sehe ich die wogende Menge – ein Ruck als ich auf meine Schnürsenkel trete. Mit Schwung lande ich auf dem Gleis. Endlich kommt die S-Bahn.

Albini meets Beethoven

Oktober 13, 2010

Sehr geehrte Klassikfangemeinde,

führt die vorgehaltenen Hände von euren breitgrinsenden Mündern doch mal an die Stirn und denkt scharf nach. Aber das wird euch nichts helfen, denn mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit werdet ihr selbst durch Handauflegen keinen Albini in euren Gehirnwindungen zum Leben erwecken. Albinoni womöglich und nun grinst ihr, weil ihr meint, ich hätte das „on“ vergessen. Mitnichten. Ich höre ihn gerade und es fehlt nichts.

Steve Albini habe ich vor ein paar Tagen gehört. Live. Mit seiner Noiserock-Band Shellac. Das hört sich nun schlimmer an, als es sich anhört. Es war mal wieder eines dieser kleineren Konzerte, die so intensiv sind, so persönlich, so nah. In die Jahre gekommene Noiserocker mit unförmigen Auswölbungen, die sich über den Hosenbund stülpen. Sie glauben nicht mehr, cool sein zu müssen. Sie sind gut und verlassen sich darauf. Sperrige, nur mit E-Gitarre, E-Bass und Schlagzeug auf wenige Akkorde, Takte und, naja, Melodien reduzierte Musik. Gesang wird manchmal geschrien, aber nicht wahllos und mutwillig, sondern ausdrücklich und kraftvoll schreien sie mir das entgegen, was durch ihre Lieder nach aussen dringt. Und sie bringen einem live, mit ihrer Freude am Spielen, Zusammenspielen, ihren vertrauten Gesten und Blicken untereinander ihre Musik nahe. Musik, die aufgrund ihrer Reduziertheit zuerst einfach und einfach laut zu sein scheint. Paradoxerweise muss man sich gerade deshalb in sie und ihren Text reinhören, um sie wirklich hören und schätzen zu können. Der Kontakt zum Publikum ist warmherzig, auf Augenhöhe, man merkt, dass sie sich wohlfühlen. Eines dieser seltenen Konzerte, von denen ich mir Tage danach noch wünsche, abends wieder hingehen zu können.

Noch in derselben Nacht habe ich zwei CDs bestellt. Eine von Shellac, eine von Beethoven. Was hätte Ludwig wohl angestellt, wenn es zu seiner Zeit schon E-Gitarren gegeben hätte? Seine Pastorale hätte sich vielleicht wie eine Wand aus Lärm aufgebaut, die zwitschernden Vögel wären bei ihrem Klang vor Schreck vom Baum gefallen. Ludwigs fortschreitender Taubheit wäre das Instrumentarium wohl entgegengekommen.

Albini und Beethoven haben und hatten das Musizieren gemeinsam und, auch wenn sie sich sehr unterschiedlich ausdrücken und ohne sie vergleichen zu wollen – was für eine abartige Vorstellung – ich mag sie beide.

Sauwetter ist nichts für Schildkröten

Oktober 5, 2010

Sauwetter heute. Mir fällt auf, dass ich oft Tiere als Protagonisten meiner Texte wähle. Jetzt auch noch die Sau.

Aber nein, ich wollte doch über die Schmuckschildkröte schreiben. Allerdings bin ich durch die Sau darauf gekommen. Des Wetters wegen. Ich habe nämlich gelernt, dass das Leben einer Schmuckschildkröte wohl sehr angenehm sein kann, vor allem jetzt, da sich die Temperaturen mehr und mehr den unmenschlichen annähern.

Mich über diese Tiere zu informieren, ja, dazu hat mich wiederum ein Mensch gebracht. Kürzlich ist ein solcher auf meinem Blog gelandet, weil er als Suchbegriff die Zeile „geschlechtsbestimmung der peninsula schmuckschildkröte“ eingegeben hatte. Vermutlich, weil ich vor Monaten eine ausführliche Abhandlung über dieses Thema schreiben wollte, dann aber abgeschweift und bei Pinguinen und Seeleoparden gelandet bin. Die Suchmaschine findet also sogar Absichten.

Gut, jetzt habe ich endlich gelernt, dass Peninsula Schmuckschildkröten Wassertemperaturen von 28° geniessen, die Lufttemperatur noch darüber liegt und, da das ja doch manchmal etwas frisch ist, Sonnenplätze mit 40° aufsuchen. Wenn es kalt wird stellen sie sich beleidigt tot und machen ein Nickerchen. Ich überlege ja auch schon, wie ich den kommenden Winter ohne Schaden an Leib und Seele überstehen soll. Leider passe ich in kein Aquarium, ausser in diese großen, öffentlichen. Aber eine Dauerkarte ist teuer.  Und wenn sich dann eine Familie die Nasen an der Scheibe plattdrückt, um mich beim Zähneputzen zu beobachten… nein, etwas Privatsphäre ist mir doch auch wichtig. Die Winterstarre im Kühlschrank, wie sie diese Tiere auch praktizieren, würde ich für mich allerdings von vornherein ausschliessen. Ein falscher Griff und ich lande als Brötchenbelag im Butterbett.

Diese Schildkröten ernähren sich hauptsächlich pflanzlich, hin und wieder ist aber auch ein Stück Fleisch drin. Selbst meine Essgewohnheiten müsste ich also nicht umstellen. Wobei ich dann doch lieber die Bachflohkrebse wie Rosinen aus einem Mohnkuchen rauspopel und mich an den Fischen gütlich tue.

Auf meinen Lieblingssport müsste ich auch nicht verzichten. Da Wasserschildkröten den größten Teil ihrer Zeit tatsächlich im Wasser verbringen, müsste ich lediglich Schwimmschrumpelfinger und nasse Haare in Kauf nehmen.

Manchmal überlege ich ja, was ich Neues ausprobieren möchte. Vielleicht sollte ich Schmuckschildkröte werden.

Innenwelten

Oktober 2, 2010

Über Sachen zu schreiben, die mich beeindrucken, finde ich sehr schwierig. In Worten das auszudrücken, was sie in mir bewegen, was sie auslösen, ohne aber meine innersten Gedanken in der Öffentlichkeit des Internets preiszugeben. Den Leser zu berühren, ohne die Kitschgrenze zu überschreiten. Seine eigenen Erfahrungen und Gefühlswelten anzusprechen, die das Gehörte, Gelesene, Gesehene färben. Meine eigenen sind nur für mich und mir nahestehende Menschen interessant. Trotzdem gelingt es mir hin und wieder, andere aufmerksam und neugierig zu machen. Neugierig auf ihre eigene Erfahrung.

Andersrum wurde ich erst vor Tagen auf ein Buch aufmerksam gemacht, das mich, obwohl erst angefangen, so einhüllt in seine Stimmung, dass ich es nur sehr sehr langsam lesen kann, um es einsickern zu lassen und nicht das zu überlesen, was es in mir bewegt. Manchmal ein einzelner Satz, der mich aufgrund eigener Erfahrungen persönlich berührt und gleichzeitig in die ganz andere Welt der Autorin führt. Es ist eines dieser Bücher, die in mir zurückbleiben. Seine nähere Beschreibung habe ich auf der Schreibschaukel gefunden.

Verschiedene Kommentare habe ich in Foren auch über folgendes Lied gelesen. Fast ausnahmslos beziehen sie sich auf die konkrete, wortwörtliche Aussage des Textes und natürlich auf die Musik, die mitnimmt und berührt. Auch das Video, das nicht von der Band produziert wurde, ist wohl eine ganz persönliche – wie ich finde, sehr „schöne“ – Interpretation. Für mich drückt das Lied aber, übersetzt in meine eigenen Innenwelten, etwas anderes aus. Einen Kommentar fand ich deshalb besonders treffend:

„Very sad, pulled at my heart. Great song, though – what is the real meaning of the song?“

I wish that I had known in that first minute we met,
The unpayable debt that I owed you.
Because you’d been abused by that bone that refused you,
And you hired me to make up for that.

Walking in that room when you had tubes in your arms,
Those singing morphine alarms out of tune
Kept you sleeping and even, and I didn’t believe them
When they called you a hurricane thunderclap.

When I was checking vitals I suggested a smile.
You didn’t talk for awhile, you were freezing.
You said you hated my tone, it made you feel so alone,
And so you told me I ought to be leaving.

But something kept me standing by that hospital bed,
I should have quit but instead I took care of you.
You made me sleep and uneven, and I didn’t believe them
When they told me that there was no saving you.

http://antlersmusic.com/