Egal, wann ich aufstehe. Ich gehe immer so spät aus dem Haus, dass ich mehr fliege als radle, um noch die S-Bahn zu erreichen. Dass ich aber doch radle merke ich, wenn ich im Affenzahn von den Pflastersteinen durchgerüttelt werde. Dieses Gefühl, wenn das Hirn im Kopf gegen den Schädelknochen wabbelt – unangenehm finde ich das. Gehirnrüttelt und affenzahnwindgepustet lande ich mit einem Satz von der Rolltreppe auf dem Wartesteig, um zu warten. Lange. Das Wort „Stellwerkstörung“, das aus den Lautsprechern tönt, bereitet mich darauf vor, während mein Puls noch sichtbar durch die Halsschlagader pocht. Es ist ein Codewort aus der Bahnsprache, das für unerklärliche, unbegrenzte Verzögerungen steht.
Langes Warten erledige ich gewohnheitsgemäß am Ende des Bahnsteigs, da wo keine Mitwartenden im Weg sind. Während ich Musik höre kann ich dann ungestört die Fugen zwischen den Betonplatten betrachten, das Moos darin und den Spuckefladen, den jemand daneben verloren hat. Und an Hüpfspiele denken. Ich habe keine Kreide dabei, der Kugelschreiber funktioniert mal wieder nicht. Also fange ich an, mit nach innen verdrehten Beinen die querliegenden Fugen abzulaufen.
Auch wenn keiner den Grund kennt – dass eine verspätete Bahn früher kommt, wenn sich alle in die Richtung drehen, aus der sie kommen wird, gehört zum Insiderwissen von Bahnreisenden. Niemand blickt in die Richtung, in die sie ihn bringen wird. Damit schauen heute also alle auch in meine Richtung. Zunächst noch an mir vorbei, die hypnotischen Zugblicke beschwörend auf die Gleise gerichtet. Dann werden die Pupillen rastlos hin- und hergerissen, irritiert, bis sie erstarren, mich im Fokus.
Dass meine ersten zaghaften Tanzschritte reges Interesse erwecken, schmeichelt mir natürlich ungemein. Als Anfänger noch wenig kunstvoll, schreite ich im Rhythmus der Musik vor und zurück, die verquirlten Beine zielsicher auf die Fugen setzend. Ich beziehe die Umgebung mit ein, verschmelze mit ihr, bin eins mit den Betonplatten. Ermutigt durch die faszinierten Zuschauer werde ich experimentierfreudig und belebe meine Schritte durch ein leichtes Wippen. Unten rum jetzt leichtfüssig fängt mein Oberkörper an, sich im Takt zu wiegen. Völlig versunken bemerke ich meine Umgebung nicht mehr, bis ich aus den Augenwinkeln Bewegung wahrnehme. Wie in Trance schaukeln die Wartenden mit, selig die Stellwerkstörung vergessend. Entgeistert weiterwiegend sehe ich die wogende Menge – ein Ruck als ich auf meine Schnürsenkel trete. Mit Schwung lande ich auf dem Gleis. Endlich kommt die S-Bahn.